SVP forciert Menschenrechte-Kündigung im Parlament

Die SVP will die Europäische Menschenrechtskonvention bzw. die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) kündigen, über deren Umsetzung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg wacht.

SVP-Nationalrat Toni Brunner hat im Parlament eine entsprechende Interpellation namens «Kündigung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten» eingereicht, welche die Aufkündigung der Menschenrechte in die Wege leiten soll: «Eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist [...] naheliegend», so Brunner. Auch der SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt, der geistige Vater der Selbstbestimmungs-Initiative (SBI), deutet eine Kündigung explizit an:



 


Auch in der Erklärung zur SBI-Initiative hiess es auf der SVP-Homepage in der Version vom 7. April 2018 noch: «Die Kündigung der EMRK ist nicht das Ziel der Selbstbestimmungs-Initiative, doch sie nimmt eine Kündigung in Kauf, falls es zu wiederholten und grundlegenden Konflikten mit der Verfassung kommt.»
 

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So heisst es in Brunners eingereichter Interpellation 13.3237 zur EMRK-Kündigung:


1. Ist es zutreffend, dass die Urteile des EGMR zunehmend über dessen Grundauftrag hinausgehen?

2. Bei der Ratifikation der EMRK haben Bundesrat und Parlament die Stimmen, die davor gewarnt haben, dass mit der Ratifikation eine Einschränkung der Volksrechte verbunden ist, nicht ernst genommen. Wie beurteilt der Bundesrat dies heute? Wäre - aus heutiger Sicht - angesichts der Tragweite der Ratifikation der EMRK nicht ein Volksentscheid angebracht gewesen? Wäre die Ratifikation der EMRK heute dem Staatsvertragsreferendum zu unterstellen?

3. Ist es nicht als Misstrauen gegenüber der schweizerischen Gerichtsbarkeit zu werten, wenn letztinstanzliche Urteile noch an den EGMR weitergezogen werden können? Sind Schweizer Gerichte fachlich auf die Auslegung der EMRK durch den EGMR angewiesen?

4. Wie beurteilt er den Einfluss auf die Schweizer Rechtsprechung bei einer Verurteilung der Schweiz durch den EGMR?

5. Wie beurteilt er die Tatsache, dass diese Verurteilungen im Widerspruch zu Schweizer Volksentscheiden und/oder Parlamentsentscheiden stehen können?

6. Wie beurteilt er die Gefahr, dass Urteile des EGMR Entscheide der Legislativen beeinflussen bzw. vorwegnehmen?

7. Was wären für die Schweiz die Vor- bzw. die Nachteile einer allfälligen Kündigung der EMRK?


Am 15. Februar 2013 wird der damalige SVP-Parteipräsident Toni Brunner in der «Aargauer Zeitung» deutlich: «Eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist angesichts der Urteilsbegründung naheliegend.» Am 19. November 2014 erreicht der Kampf gegen Strassburg die Regierungsebene: SVP-Bundesrat Ueli Maurer beantragt im Bundesrat erfolglos die Kündigung der EMRK.
 

 

Brunners Begründung:

«Menschenrechte und Grundfreiheiten sind ein wichtiges Gut und entsprechend in der EMRK aufgelistet. Als Vertragspartei muss die Schweiz jedoch nicht nur die in der Konvention enthaltenen Rechte und Grundfreiheiten beachten, sondern auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser hat in den letzten Jahren wiederholt Entscheide gefällt, die mit seinem Auftrag, die in der Konvention festgelegten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen, nichts mehr zu tun haben. Der EGMR wird immer mehr zum Verfassunggeber und zur rechtsetzenden Instanz für die Schweiz. Damit werden der schweizerische Souverän und das Parlament als Gesetzgeber zunehmend entmachtet.»

 

Die Stellungnahme des Bundesrates:

1. Die rechtlichen Grundlagen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) enthalten. Seine Zuständigkeit umfasst alle die Auslegung und Anwendung der Konvention und der Protokolle betreffenden Angelegenheiten, mit denen er befasst wird (Art. 32 EMRK).

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt. Ähnlich wie bei den Grundrechten der Bundesverfassung kann sich auch der Gehalt der Garantien der EMRK mit dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. Der Gerichtshof trägt diesem Umstand durch eine zeitgemässe Auslegung der Konventionsbestimmungen Rechnung.


Die Rechtsprechung des EGMR hat im Übrigen, wie die Statistik zeigt, nicht zu einer grossen Anzahl von Verurteilungen geführt. Was die Schweiz betrifft, wurden seit dem Inkrafttreten der Konvention (1974) bis Ende 2012 insgesamt 5502 Beschwerden registriert. In nur 87 dieser Fälle (etwa 1,6 Prozent) hat der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention festgestellt.
 

In diesem Kontext ist zudem auf die laufenden Reformarbeiten am EMRK-Kontrollsystem hinzuweisen, an denen sich die Schweiz aktiv beteiligt. Gemäss den Ergebnissen der Konferenz auf Ministerebene in Brighton vom April 2012 sollen bis Ende 2013 die Vorbereitungen für verschiedene Anpassungen der EMRK abgeschlossen sein. Zu den wichtigen inhaltlichen Anliegen dieser Reform gehören namentlich die Verankerung des Ermessensspielraums der Vertragsstaaten und des Grundsatzes der Subsidiarität. Dieser besagt, dass es in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten der EMRK ist, die darin garantierten Rechte zu schützen.


2. Die EMRK wurde 1972 vom Bundesrat unterzeichnet und 1974 vom Parlament genehmigt. Nach den damals geltenden Regeln unterstand der Genehmigungsbeschluss nicht dem Referendum. Die Bundesverfassung sah in Artikel 89 Absatz 4 vor, dass Staatsverträge dem fakultativen Referendum unterstehen, wenn sie unbefristet oder für eine längere Dauer als 15 Jahre abgeschlossen wurden. Da die EMRK frühestens 5 Jahre nach dem Beitritt - unter Einhaltung einer Frist von sechs Monaten - wieder gekündigt werden kann (Art. 58), war die genannte Verfassungsbestimmung nicht anwendbar.

Ein Staatsvertrag war nach damals herrschender Lehre und Praxis ohne Rücksicht auf seine Geltungsdauer und die Möglichkeit der Kündigung Volk und Ständen auch dann zur Abstimmung zu unterbreiten, wenn er tiefgreifende Änderungen der Staatsstruktur oder einen grundsätzlichen Wandel in der schweizerischen Aussenpolitik bewirkte. Der Bundesrat prüfte diese Frage eingehend und gelangte - wie die Mehrheit des Parlamentes - zum Schluss, diese Voraussetzungen seien nicht gegeben (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 4. März 1974, BBl 1974 I 1035, 1061ff.).

Nach den heute geltenden Bestimmungen würde der Genehmigungsbeschluss des Parlamentes zum Beitritt zur EMRK dem Referendum unterstellt. Artikel 141 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung sieht vor, dass gegen völkerrechtliche Verträge, die wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert, das fakultative Referendum ergriffen werden kann. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob nicht sogar ein Anwendungsfall des obligatorischen Referendums sui generis vorliegen würde (vgl. dazu Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative "für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik"; BBl 2010 6963, 6984ff.).

3./4. Die Möglichkeit, gegen letztinstanzliche innerstaatliche Entscheide, insbesondere gegen Urteile des Bundesgerichtes, beim Gerichtshof Beschwerde zu erheben, ist ein wesentliches Merkmal des Systems der EMRK. Die Konvention erhält ihre besondere Bedeutung dadurch, dass ihre Bestimmungen durch einen wirksamen Durchsetzungsmechanismus konkretisiert werden.

Nicht zuletzt aus einer historischen Perspektive wertet es der Bundesrat als einen wichtigen Fortschritt, dass die europäischen Staaten den Schutz des Rechtsstaates und der Menschenrechte als eine gemeinsame Aufgabe wahrnehmen und dass europaweit einheitliche Standards zum Schutz der Individualrechte festgelegt und durchgesetzt werden können. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat in den Mitgliedstaaten zu einer vertieften Beschäftigung mit den Menschenrechten geführt, welche auch das Verständnis der landesrechtlichen Grundrechte beeinflusst hat. Die Nachführung der Bundesverfassung Ende der Neunzigerjahre bietet dafür ein eindrückliches Beispiel: Der neueingeführte Grundrechtskatalog baut weitgehend auf der EMRK und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur EMRK auf.

Das Bundesgericht hat die Vorgaben der Strassburger Rechtsprechung stets umgesetzt. Es bezieht diese Rechtsprechung seit je in die eigene Praxis ein, auch soweit es um die Auslegung und Anwendung der Grundrechte der Bundesverfassung geht.


Mit Blick auf die gesamte Entwicklung seit dem Beitritt der Schweiz zur Konvention ist der Bundesrat der Überzeugung, dass die Konvention und die darauf basierende Rechtsprechung des Gerichtshofs und der innerstaatlichen Gerichte, allen voran des Bundesgerichtes, den Schweizer Rechtsstaat und den Schutz der Individualrechte und Grundfreiheiten der Menschen in der Schweiz gestärkt haben.
 

 

5./6. Für das Verhältnis zwischen der EMRK und Bundesgesetzen gilt grundsätzlich die vom Bundesgericht entwickelte und in der Folge bestätigte sogenannte PKK-Rechtsprechung (vgl. BGE 125 II 417): Danach geht das Völkerrecht im Konfliktfall dem nationalen Gesetzesrecht vor, jedenfalls soweit es sich um Bestimmungen handelt, die dem Schutz der Menschenrechte dienen. Seit dem Beitritt der Schweiz zur EMRK prüft der Bundesrat in Botschaften zu Bundesgesetzen stets auch die Vereinbarkeit mit den Konventionsgarantien. Dieses Vorgehen hat sich bewährt. Das Parlament verfügt damit im Gesetzgebungsverfahren über die nötigen rechtlichen Entscheidgrundlagen.

Für den Umgang mit Konflikten zwischen der EMRK und der Bundesverfassung gibt es keine klare Regel. Der Bundesrat hatte es in einem Bericht vom 30. März 2011 abgelehnt, die vom Bundesgericht im Rahmen seiner PKK-Rechtsprechung entwickelte Konfliktregel generell auf Verfassungsstufe zur Lösung von Normwidersprüchen zwischen Völkerrecht und Verfassungs- bzw. Gesetzesrecht, also auch zwischen der EMRK und der Bundesverfassung, zu verankern (vgl. BBl 2011 3613, 3653ff.). Derzeit stehen zwei bundesrätliche Vorschläge zur Diskussion, mit denen Konflikte zwischen dem Völkerrecht und der Bundesverfassung im Allgemeinen und damit auch zwischen der EMRK und der Bundesverfassung im Speziellen entschärft werden sollen. In Umsetzung der Motionen 11.3468 und 11.3751 hat der Bundesrat dazu am 15. März 2013 die Vernehmlassung eröffnet. Vorgeschlagen werden ein materielles Vorprüfungsverfahren von Volksinitiativen vor der Unterschriftensammlung sowie die Erweiterung der Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen auf die Kerngehalte der Grundrechte. Eine solche neue Schranke gälte für sämtliche Verfassungsrevisionen, also auch für Behördenvorlagen.


7. Für den Bundesrat kommt eine Kündigung der EMRK aus politischen und juristischen Gründen nicht infrage.


Auf internationaler Ebene hätte eine Kündigung gravierende Nachteile für die politische Glaubwürdigkeit unseres Landes zur Folge. Die Kündigung würde zwingend das Ausscheiden aus dem Europarat bedingen, zu dessen menschenrechtlichen und demokratischen Grundwerten sich die Schweiz bekannt hat - wobei sie dieses Jahr auch die 50-jährige Mitgliedschaft beim Europarat begeht.
 

Aus juristischer Sicht ist hervorzuheben, dass auch bei einer Kündigung der EMRK der Grundrechtskatalog der Bundesverfassung sowie andere völkerrechtliche Verpflichtungen in Kraft bleiben würden, deren Inhalt mit den Garantien der Konvention weitgehend deckungsgleich ist.

Weiterführende Informationen:
SVP-Interpellation zur Kündigung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Parlament.ch)

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(Last updated: 14.11.2018, 14:12)