Das Ständemehr gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. #KVI #abst20
— Ronja Jansen (@RonjaJansen) November 29, 2020
Ständemehr: Was ist das und warum gibt es das in der Schweiz? Soll man das Ständemehr abschaffen wegen der KVI? Was, wenn das Ständemehr gescheitert ist und was passiert bei Unentschieden? Wie viele Kantone braucht es, dass es nicht erreicht wird? Und wieso hat die Stimme eines Appenzellers 47x mehr Gewicht als die eines Zürchers? Hier gibt es alle Infos: Einfache Erklärung, Zahlen, Fakten und absolut Wissenswertes!
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Wer die Bundesverfassung ändern möchte (z.Bsp. über Abstimmungen von Volksinitiativen), der benötigt in der Schweiz sowohl die Stimmen der Bevölkerung (Stimmvolk) als auch die Stimmen der Kantone (Stände), um erfolgreich zu sein.
Das Ständemehr sollte ursprünglich die wenig bevölkerten Kantone vor der Majorität der bevölkerungsreichen Kantone schützen.
Diese Ungleichheit hat jedoch vor allem in den letzten Jahren zur Kritik des Ständemehrs geführt und steht ganz aktuell wegen der gescheiterten KVI erneut zur Debatte.
Ursprünglich wurde 1874 eingeführt, dass Teil- und Totalrevisionen der Bundesverfassung eine Zustimmung der Bürger UND der Kantone benötigen. Auf diese Art und Weise sollten die konservativ-katholischen Kantone vor einer Mehrheit der liberalen und bevölkerungsreichen reformierten Kantone geschützt werden.
Doch während dieses Erfordernis einer sogenannten Doppelmehrheit (Ständemehr und Volksmehr) anfangs in der Schweiz noch keine grosse Rolle spielte, gewann das Ständemehr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung - und spielte zuletzt das Zünglein an der Waage.
Das Ständemehr ist dem Volksmehr kräftemässig überlegen - und umgekehrt. Wird eine Volksinitiative vom Schweizer Stimmvolk durch Stimm-Mehrheit angenommen, kann sie immer noch am Ständemehr scheitern.
Genau so jüngst geschehen bei der hart umkämpften Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI) vom 29.11.2020. Das Stimmvolk nahm zwar die KVI-Volksinitiative mit einer Mehrheit von 50,73% JA-Stimmen (1'299'172) gegenüber 49,27% NEIN-Stimmen (1'261'673) deutlich an - d.h. mit 37'500 mehr Ja- als Nein-Stimmen. Von den Kantonen (Ständen) sagten aber nur 8,5 Kantone Ja und 14,5 - meist bevölkerungsärmere - Kantone Nein.
Die KVI scheiterte aus diesem Grund trotz dem JA in der Bevölkerung am Ständemehr.
Eine Abstimmung kann aber auch umgekehrt vom Ständemehr angenommen und vom Volksmehr abgelehnt werden. Ist das der Fall, scheitert die Abstimmung ebenfalls. Denn für den Abstimmungserfolg ist eine sogenannte Doppelmehrheit von Stand (Kantone) und Stimmvolk (Bevölkerung) zwingende Voraussetzung.
Seit 1966 scheiterten in der Schweiz insgesamt zehn vom Volk angenommene Verfassungsvorlagen (mehrheitlich Bundesbeschlüsse), weil sie nicht die Mehrheit der Kantone erreichten.
Die erste und zugleich letzte Volksinitiative überhaupt in der Schweizer Geschichte, die gleichzeitig vom Volk angenommen (50,2% JA) und dann von den Kantonen (14 NEIN) versenkt wurde, war die Volksinitiative «zum Schutz der Mieter und Konsumenten (Weiterführung der Preiskontrolle)» aus dem Jahr 1954 - also über 65 Jahre vor der KVI-Abstimmung.
Seit 1910 scheiterten in der Schweiz insgesamt vier von den Kantonen angenommene Verfassungsvorlagen (mehrheitlich Volksinitiativen), weil sie nicht die Mehrheit des Volkes erreichten.
Die letzte Volksinitiative, die gleichzeitig von den Ständen angenommen (16,5 JA) und dann vom Stimmvolk (50,8% NEIN) versenkt wurde, war die Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» aus dem Jahr 2016 - also vor über 4 Jahren.
In der Schweiz gibt es insgesamt 23 Standesstimmen.
Diese bestehen aus sechs halben Standesstimmen der Halbkantone Appenzell-Ausserhoden (AR), Appenzell-Innerrhoden (AI), Basel-Landschaft (BL), Basel-Stadt (BS), Nidwalden (NW) und Obwalden (OW).
Die restlichen 20 Kantone verfügen jeweils über eine volle Standestimme.
Historisch war die Ermittlung der Standesstimme jeweils vom Kanton abhängig - und konnte bei Eidgenössischen Abstimmungen durchaus anders ausfallen, als die jeweilige Volksmehrheit im Kanton.
Heute gibt es jedoch eine bundesrechtliche Regelung, die vorsieht, dass die Standesstimme identisch mit der Mehrheit der Volksstimmen sein muss. Das heisst, wenn die Mehrheit der Bevölkerung eines Kantons einem Gesetz zustimmt, so gilt, dass auch der Kanton mit der Standesstimme zustimmt.
Eine Zustimmung durch die Stände (Ständemehr) erfolgt nur, wenn bei der Abstimmung auch tatsächlich eine Mehrheit der Kantone erreicht wird. Steht es nämlich unentschieden - also 11,5 vs. 11,5 Stimmen - gilt dies als Ablehnung durch die Kantone.
Unter bestimmten Umständen wird neben dem Volksmehr auch das Ständemehr benötigt.
Das ist der Fall, wenn die Bundesverfassung durch eine Eidgenössische Volksinitiative oder durch ein obligatorisches Referendum geändert werden soll oder bei einem geplanten Beitritt zu supranationale Gemeinschaften oder Organisationen kollektiver Sicherheit.
Ebenso ist bei Bundesgesetzen ohne Verfassungsgrundlage, die dringlich erklärt wurden und über ein Jahr andauern das Ständemehr notwendig.
Es gibt auch Abstimmungen, in denen ein Volksmehr ausreicht und das Ständemehr keine Rolle spielt. Dies ist beim fakultativen Referendum (z.Bsp. eine Gesetzesänderung) der Fall. Beim fakultativen Referendum gilt die Vorlage dann als angenommen, wenn insgesamt mehr StimmbürgerInnen ein „Ja“ als ein „Nein“ in die Abstimmungsurne legen. Die Stände sind hierbei für den Ausgang des Abstimmungsresultates irrelevant.
In Fällen, in welchen ein Ständemehr ebenso wie ein Volksmehr benötigt wird, kann das eine Mehr das andere aufheben.
Das heisst, selbst wenn die Bevölkerung sich für ein Gesetz ausspricht, kann die Verabschiedung am Standesmehr scheitern. Ebenso wenn das Ständemehr für eine Gesetzesänderung entscheidet, kann dieses durch die Wahlberechtigten abgelehnt werden.
Weshalb das Ständemehr abgeschafft gehört:
— Ronja Jansen (@RonjaJansen) November 29, 2020
1. Kantonszugehörigkeit ist ein willkürliches Merkmahl. Genauso absurd, wie wenn Initiativen über 50% bei queeren Menschen erreichen müssten
2. Es ist konservativ, weil die Hürde für Veränderung damit höher liegt als für Status Quo#abs
im Gegensatz zum Kanton Zürich (ZH) mit über 1'539'000 Einwohnern
Das rechnet sich wie folgt:
Kanton | Einwohner | Ständerat | Standesstimme |
Appenzell Innerrhoden (AI) | 16'145 (2019) | 1 Ständerat | 0.5 |
Zürich (ZH) | 1'539'000 (2019) | 2 Ständeräte | 1 |
Rechnet man die Appenzeller Einwohnerzahl entsprechend Mal zwei, um auf eine volle Standesstimme zu kommen, ergibt das 32'290 Appenzeller-Einwohner (= 1 Standesstimme).
1'539'000 Zürcher durch 32'290 Appenzell Innerrhoder macht 47,66.
So viel höher ist also die Stimm-Gewichtung eine Appenzell Innerrhoders gegenüber einem Zürcher Stimmbürger.
Sorry, ich muss mich korrigieren (danke für die etwas mokanten Hinweise): Es sind natürlich nur 8 Ständestimmen! Ändert aber nichts daran, dass 7,9% der Bev. über dieses grosse Ständegewicht von rund einem Drittel der Kantone ein durch nichts zu rechtfertigendes Gewicht haben
— Philipp Sarasin (@Philipp_Sarasin) November 29, 2020
Der Halbkanton Appenzell Innerrhoden ist mit 172 km2 Fläche zwar 10x kleiner als der Kanton Zürich mit 1'729 km2 Fläche, hat aber 95x weniger Einwohner als Zürich. Dies hängt insbesondere mit der Industrialisierung und der Abwanderung der Menschen aus den ländlichen Regionen in die Städte zusammen. Dementsprechend haben sich in den letzten 150 Jahren die Bevölkerungszahlen einiger Kantone kaum verändert, während insbesondere die Städte um ein Vielfaches gewachsen sind. Auch aus diesem Grund ist das Ständemehr mittlerweile mehr als umstritten und gilt als längst überholt.
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Autor: Schweiz - Redaktion